Die Wohnung oder das Haus sind längst zu groß geworden. Aber ein Umzug fällt den Bewohnern schwer. Psychoanalytiker Rainer Rehberger erklärt, wie durch Trennung Neues entsteht.
goliving.de: Jeder Umzug bedeutet den Aufbruch in eine neue Ära, aber auch, sich von alten Besitztümern zu verabschieden. Warum fällt das vielen Menschen so schwer?
Bei jeder Trennung – und das kann schon von einem Buch sein, das ich immer schon lesen wollte – werden Menschen an vergangene Trennungserfahrungen erinnert. Denn alle Erlebnisse werden im emotionalen Gedächtnis gespeichert. Wenn ich einmal schwerwiegende Trennungen durchgemacht habe, werden diese Emotionen wieder wachgerufen. Da kann der Schmerz über den Verlust so groß sein, dass jemand sagt: Nein, das tue ich mir nicht an. Ich will in der großen Wohnung sterben.
goliving.de: Das heißt, wir hängen gar nicht so sehr an den Dingen selbst, sondern an den Erinnerungen. Wie kommt es, dass wir Emotionen auf Gegenstände projizieren?
Der Londoner Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott hat mal beschrieben, dass Babys und Kleinkinder in dem Augenblick, in dem sie sich mehr und mehr von der Mutter lösen, oft einen Gegenstand wählen, von dem sie sich nicht trennen können. Das kann ein Waschlappen sein, ein Teddy oder eine Puppe, und dieser Gegenstand wird dann gehütet wie ein Schatz. Mit dem tröstet sich das Kind, wenn die Mutter abwesend ist. Das ist in der Entwicklung das erste Mal, das ein Gegenstand eine Bedeutung bekommt, die der Beziehung zur Mutter ein Stück weit entspricht. So kommt es, dass Gegenstände von uns so geliebt werden können.
goliving.de: Gibt es einen guten Zeitpunkt sich von Dingen zu trennen?
In der kindlichen Entwicklung ist der gute Zeitpunkt, wenn das Kinder dazu in der Lage ist, sich selbst zu trennen, indem es wegkrabbelt, die Wohnung untersucht und dann zurückkehrt. Auf dem Spielplatz kann man sehen, dass Kinder spielen, aber regelmäßig zu ihren Eltern zurücklaufen. Auch Erwachsene tun das. Wenn sie etwa nach einer gelungenen Landung den Flieger verlassen, nehmen viele ihr Handy und rufen zuhause an: Ich bin gut gelandet, ich komme bald. Das hat alles mit Trennung und deren Bewältigung zu tun.
goliving.de: Was bedeutet das für den Umzug im Alter?
Wenn wir uns als ältere Menschen von unserem Besitz trennen, ist ein guter Zeitpunkt dann, wenn wir das noch selbst in die Hand nehmen können. Es ist wichtig, sich im Leben schon darauf vorzubereiten und nicht zu spät mit dem Loslassen anzufangen. Was man nicht mehr braucht, kommt weg. Andere können es vielleicht noch gebrauchen.
goliving.de: Ein Haus füllt sich meist über ein ganzes Leben. Wie lange sollte man sich Zeit nehmen, um es zu leeren?
Da gibt es keine äußeren Normen. Ein Mensch, der freundschaftliche Beziehungen zu Verwandten und Freunden pflegt, wird sich leicht Schritt für Schritt von seinen Besitztümern trennen können. Denn sich auf Beziehungen einzulassen, erleichtert sich zu trennen. Deshalb enden auch Menschen, die isoliert leben, oft allein mit ihren vielen Sachen in ihrem großen Haus.
goliving.de: Hilft es denn, wenn ich meine ausrangierten Besitztümer an Verwandte und Freunde verschenke, ich also weiß, wer es bekommt und nicht wegschmeißen muss?
Natürlich! Weggeben und Verschenken ist nämlich mit Beziehungen verbunden. Das sieht man auch im anderen Extrem: Wer im Streit mit einigen Angehörigen lebt, sucht sich neue Bezugspersonen, denen er sein Hab und Gut vermachen kann. Ich geben allen, zu denen ich eine gute Beziehung habe, aber auch anderen, dem etwas zu geben lohnend ist. Und es kommt ja auch etwas zurück, denn die meisten Menschen freuen sich, wenn sie etwas geschenkt bekommen. Eine Hausentrümpelung bedeutet nicht nur Trennung, sondern auch Gewinn von neuen Emotionen.
Psychoanalytiker Rainer Rehberger
Interview: Anna Wieder